Gedanken zur Demenz

Als meine Mutter erste Symptome von Demenz entwickelte, da wusste ich bereits, zumindest glaubte ich zu wissen, was kommen würde. War doch ihre um sechs Jahre ältere Schwester bereits in einem recht weit fortgeschrittenen Stadium an Demenz erkrankt. Freilich hatte ich das nur sporadisch aus der Entfernung beobachtet, und mich auch lange damit beruhigt, dass das ein bedauerlicher Einzelfall sein müsse. Denn hatte die Tante nicht jahrzehntelang in einer Fabrik für Farben und Lacke gearbeitet? Wer weiß wie viele Lösungsmitteldämpfe sie da eingeatmet hatte. Man hatte ja schon so viel über die Berufskrankheit "Hirnschrumpfung" bei Malern und Lackierern in den Medien gehört. In der Familie lag das also sicher nicht. Dann aber eines Abends der Anruf des Vaters, er habe den Notarzt rufen müssen, weil die Mutter mehrfach bewusstlos umgefallen sei. Einen Schwächeanfall soll der Notarzt diagnostiziert haben, doch vermutlich war mehr dahinter. Das Kurzzeitgedächtnis war seitdem ramponiert, selbst Kleinigkeiten wie etwa das Zählen von ein paar Münzen Kleingeld - es ging nicht mehr, Tränen flossen, Wutausbrüche folgten. Der Beginn eines langjährigen Niedergangs, an dessen Ende der Tod stand und der weit härter verlief als ich mir hatte vorstellen können.

Waren es anfangs nur Konzentrationsprobleme, so traten mit der Zeit immer mehr Defizite auf. Handlungen waren zwar irgendwie logisch aber doch im Detail grotesk entstellt, wie etwa der Versuch in einer Kaffeetasse das Geschirr zu spülen. Später kamen Orientierungsprobleme in Raum und Zeit dazu: Sie begann sich im Dorf zu verlaufen, selbst von der Wohnung hatte sie nur noch eine ungenaue Vorstellung. Ihr nächtlicher Gang zu Toilette war sehr einfach an den Geräuschen der Türen zu überwachen, die sie öffnete: Zunächst ihre Schlafzimmertür, dann erste Wohnzimmertür, zweite Wohnzimmertür, schließlich das Badezimmer. Wer unsere Wohnung kennt, erkennt die Rechte-Hand-Regel der Labyrinthsuche. Der Rückweg lief der gleichen Logik gehorchend erst zur Küche, dann zur Haustür, zur Kellertür (die ich beide des Nachts vorsorglich abschloß) und endlich wieder ins Schlafzimmer.

Dem Verlust der räumlichen Orientierung folgt der Verlust des Erkennens von Personen. Ich gewöhnte mich daran, mit den unterschiedlichsten Namen, meist denen ihrer verstorbenen Brüder, angeredet zu werden. Immerhin galt ich ihr also als vertraute Person. Wenn aber die Mutter an Weihnachten ihre eigene Tochter und ihre Enkelin freudig mit den Worten begrüßt: "Sie sind die Mutter von dem Mädchen da. Stimmts?" Das war schon befremdlich. Richtig weh tat es aber, als sie mir eines Tages erklärte, ihre Kinder würden schon seit Jahren nicht mehr nach ihre sehen.

Die Verständigung wird schwierig, wenn die Sätze kürzer werden, sich zu Schlagzeilen zusammenziehen um dann auf Schlagworte zu schrumpfen. Im Weiteren verliert sich die Sprache, wird durch Grunzlaute oder Lautlosigkeit ersetzt. Zustimmung oder Ablehnung sind nur noch aus Brummen, Schnurren und Gesten zu erahnen.

Zwangsweise ist es nicht, dass sich die Mobilität stark verändert: Es gibt demenzkranke Menschen, die viel laufen wollen und diesem schier unstillbaren Bewegungsdrang zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten lauf lassen. Wahrscheinlicher ist es daher eher dem Alter als der Krankheit geschuldet, wenn Demenzerkrankte unbeweglicher werden. Da sie aber stärker von Einschränkungen lebenswichtiger Reflexe betroffen sind, ist die Gefahr von altersbedingten Stürzen höher. Mobilitätsverlust und ein Leben im Pflegerollstuhl sind die Folge.

Kann man an Demenz sterben? Ich denke ja. So weit nicht ein andere Krankheit, beispielsweise Krebs, zum Tod führt, wird das finale Stadium erreicht, wenn lebenswichtige Reflexe wie Schlucken und Husten nicht mehr richtig funktionieren. Die Essensaufnahme wird zu einer lebensgefährlichen Verrichtung, die Gefahr des Verschluckens und damit des Ersticken oder der Entstehung einer Lungenentzündung, ist allgegenwärtig. Während des letzten halben Lebensjahres meiner Mutter musste als Vorsichtsmaßnahme alle Nahrung püriert und alle Flüssigkeiten angedickt werden.

Wie soll man mit einem Menschen umgehen, der sich ständig verändert und immer weiter von dem entfernt was er einst gewesen ist? Die folgenden einfachen Grundregeln könnten eine Hilfe sein:

Respketiere die Einzigartigkeit und Würde
Ich erinnere mich hier an einen Ausschnitt in einer Fernsehsendung. Eine Frau mittleren Alters konstatierte: "Die Oma brabbelt nur noch Blödsinn, die muss fort." Ich hoffe, ihre nebendran sitzende Tochter hat genau zugehört und wird ihr im Alter die gleiche Fürsorge angedeihen lassen. Ein Mensch bleibt ein Mensch, auch wenn er sich geistig und körperlich zurückentwickelt. Vielleicht versteht er uns nicht, wenn wir mit ihm sprechen. Vielleicht kann er auch nicht mehr selber sprechen. Und sicher kann er nicht mehr zielgerichtet handeln. Aber diese Menschen haben bis vor kurzem noch genauso wie wir ein eigenständiges und erfülltes Leben geführt. Und sie verdienen noch immer allen unseren Respekt. Eine Ausgrenzung und Ablehnung, ein Wegschließen und Ausschließen aus dem Leben ist nicht zulässig. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wer anderer Meinung ist und Menschen nur nach ihrer Nützlichkeit beurteilt, den sollte man im Alter schnellstens zum Abdecker bringen.
Erkenne, was belastet
Manche Demenzerkrankte scheinen zufrieden in einer Traumwelt zu verdämmern. Die meisten leiden aber unter ihrer Krankheit. Sie fühlen sich einer Welt schutzlos ausgeliefert, die sie immer weniger verstehen. Sie verlieren den Überblick über die Entscheidungen und die Folgen und spüren das. Das verunsichert und macht sie gleichzeitig ärgerlich, weil sie auf Hilfe angewiesen sind. Wir müssen ihnen Hindernisse aus dem Weg räumen und ihnen ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Es ist wie bei einem Kind, dem wir den Rahmen vorgeben, in dem es sich sicher bewegen kann, in der Hoffnung, dass dieses Gerüst Sicherheit gibt und sie entlastet. Die schwierigen Dinge des Lebens: Wo wohne ich, was esse ich, wie lange brauchen die Kartoffeln auf welcher Stufe, bis sie weich werden, sollte man diskret übernehmen und das, was noch geht – zum Beispiel das Kartoffelschälen – bleibt. Oder Wäschewaschen: Das Zusammenlegen funktioniert als einfache mechanische Tätigkeit vielleicht noch. Das nicht völlig ungefährliche Bügeln müssen Sie schon selbst übernehmen.
Führe das vertraute Leben weiter
Wenn das Kurzzeitgedächtnis nachläßt, schaffen schnelle Änderungen großes Unbehagen. Sie sollten dann eine weitestgehend konstante Umwelt ermöglichen. Der Verbleib in gewohnter Umgebung und die Beibehaltung gewohnter Lebensrhythmen kann hilfreich sein. Man sollte es aber auch nicht übertreiben. Spätestens wenn ein Demenzkrankter seine eigene Wohnung nicht mehr erkennt und statt dessen unbedingt heimgebracht werden will, wird es schwierig einem solchen Wunsch nachzukommen. Und selbst eiserne Gewohnheiten können sich im noch Alter ändern: Meine Mutter, die sich zeitlebens vor Milchprodukten wie Joghurt ekelte, entwickelte eine derartige Leidenschaft für Fruchtjoghurts, dass man beim Essensreichen kaum mit dem Löffeln nach kam.
Unterstütze und ermutige
Lassen sie ihren Angehörigen ruhig machen, was er noch glaubt machen zu können. Nichts ist deprimierender wie das Gefühl, zu nichts mehr zu taugen. Loben und ermutigen sie, auch wenn das Ergebnis vielleicht nicht so toll ausfällt. Treffen sie Sicherheitsvorkehrungen eher unauffällig hinter den Kulissen: Türen zu Treppenhäusern abschließen, die Sicherungen am Herd raus machen, das Bügeleisen verschwinden lassen. Und seien sie dickfellig, wenn es irgendwann rauskommt: Das Bügeleisen meiner Mutter war schon ein halbes Jahr versteckt, bis die Sache aufgeflogen ist. Ein dreitägiger Wutanfall mit Schreien und Heulkrämpfen war die Folge.
Sei vertraut!
Versuchen sie, ihrem Angehörigen eine vertraute Person zu bleiben. Reden sie mit ihm über seine Probleme, selbst wenn sie den Eindruck haben, dass er es nicht versteht. Er hat ein Recht darauf, Bescheid zu wissen, wenn es um ihn geht. Hören sie seinen Geschichten zu. Versuchen sie, die Gedanken und Gefühle zu erraten und ihnen an seiner Stelle in Worten Ausdruck zu verleihen. Sie werden feststellen, dass sie als Vertrauensperson akzeptiert werden, selbst wenn gar nicht mehr klar ist, wer sie eigentlich sind. Meine Mutter war beispielsweise davon überzeugt, dass sich ihre Kinder schon seit Jahren nicht mehr um sie kümmern würden, brachte aber gleichzeitig das Vertrauen, das sie mir entgegen brachte wie folgt zum Ausdruck: "Geh nicht weg, Mama". Ich glaube, einen höheren Ehrentitel kann man nicht verliehen bekommen.
Lebe das Leben
Das Leben ist zu kurz, um es sich durch Krankheit vermiesen zu lassen. Demenz ist kein Grund für permanente Betroffenheit und Übervorsicht. Diese Langeweile hält selbst ein Gesunder auf Dauer nicht aus. Scherzen sie, lachen sie. Spielen oder Singen sind ausdrücklich erwünscht.Es funktioniert nicht immer, aber spätestens, wenn sie an Heiligabend im Kreise einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke "Stille Nacht" auf der Veeh-Harfe anstimmen, werden sie feststellen, dass es Dinge gibt, gegen die selbst Alois Alzheimers Krankheit weitestgehend machtlos ist. Selbst bei Menschen, von denen sie seit Monaten kein Wort mehr gehört haben, die praktisch bewegungslos Tag ein Tag aus im Rollstuhl sitzen, selbst bei diesen regen mit diesen seit ihrer Kindheit tief ins Gedächtnis eingeprägten Liedern noch etwas zum Schwingen an. Sie fangen an zu Singen oder wenigstens zu Brummen und egal wie falsch die Melodie ist: An der Rhythmik stellen sie fest, dass das Lied sein Ziel erreicht hat.